„Neugier wecken“ – Interview zum Projekt @9Nov38 und Geschichtsvermittlung auf Twitter

Brand der Rostocker Synagoge am 9.11.38

Fünf Historiker:innen haben ein Projekt gestartet, das neue Wege in der Geschichtsvermittlung geht. Auf dem Twitteraccount @9Nov38 zeichnen sie die Ereignisse rund um die Reichsprogromnacht nach. Wer dem Projekt folgt, bekommt „in Echtzeit“ Tweets in die Timeline – nur eben, dass diese 75 Jahre später kommen. Jeder Tweet geht auf eine belegbare Quelle zurück, die sie in Archiven und Fachliteratur recherchiert haben. Das Projekt setzt so „virtuelle Stolpersteine“ im Medium Twitter.

Wir haben eine der Macherinnen, die Historikerin Charlotte Jahnz, zum Projekt befragt:

Wie und wann kamen Sie auf die Idee für @9Nov38?
Die Idee hatte Moritz Hoffmann Anfang Oktober. Es ist eine Reaktion auf den Twitteraccount @9Nov89LIVE, der im vergangenen Jahr vom MDR gemeinsam mit der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn die Ereignisse vom 9. November 1989 nachtwitterte – allerdings ohne wissenschaftlichen Anspruch. Die Personen in den Tweets waren fiktiv, das ist bei @9Nov38 nicht der Fall. Die Schicksale und Ereignisse basieren auf Fakten.

Wie haben Sie die Ereignisse, die getwittert werden, ausgewählt?
In erster Linie beziehen sich alle fünf Twitterer auf die verfügbare Literatur/Archive in ihrer Region, daher hat @9Nov38 auch nicht den Anspruch die Reichspogromnacht in vollem Umfang darzustellen. Wichtig für jeden Tweet ist, dass er einer quellenkritischen Betrachtung standhalten kann. So nutzen wir beispielsweise den Bericht eines deutschen Exilanten in Paris nicht, der Ende 1938 alles niederschrieb, was er zur Reichspogromnacht gehört hatte – der Überlieferungsweg ist hier nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus sollen die Tweets beispielhaft für die Reichspogromnacht stehen.

Welche Chancen für die Geschichtsvermittlung bietet Twitter?
Twitter bietet die Möglichkeit eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Aktuell hat der Account über 2000 Follower. Nicht alle wissenschaftlichen Publikationen haben ein so großes Publikum. Bachelorarbeiten werden beispielsweise seltenst von mehr als zwei Leuten gelesen. Die kurze Vermittlung weckt so möglicher Weise Neugier sich mehr mit der Thematik zu beschäftigen. Dafür haben wir die Seite www.9nov38.de eingerichtet, die Quellen bereit hält und auf der wir vertiefend auf das Thema eingehen.

Wie kommt das Projekt bei (älteren) Historikern an?
Aktuell gibt es sehr wenig Reaktionen von anderen Historikern, unsere Kommilitonen nehmen das Projekt sehr positiv auf. Aber auch twitternde Historiker zeigen sich begeistert. Von unseren Professoren selbst gab es, mit einer interessierten Ausnahme, bislang noch kein Feedback.

Wird es eine wissenschaftliche Nachbetrachtung des Projektes geben?
Die wissenschaftliche Nachbetrachtung findet im Blog statt. Im Anschluss an das Projekt soll außerdem eine Datenbank online gehen, die quasi die Fußnoten zu den Tweets bilden soll. Hier kann man dann nachprüfen auf welche Quellen sich welche Tweets stützen.