„Wenn du in der Redaktion bist, ist alles um dich herum dein Feind“

28. April 2011 2.50 Uhr, MZ – hier auch noch im Google Cache.

Wenn er in den Spiegel blickt, sieht Michael S. seine Vergangenheit: Die lange, rote Blase, die sich schräg unter dem linken Zeigefinger über seine Haut zieht. Dort, wo ihn der Kugelschreiber drückte. Die vielen verdrängten Schnitzer und journalistischen Platzwunden sieht man zumindest nicht auf den ersten Blick.

Michael S. war ein BZ-Redakteur. Ein Rechtsradikaler. Ein Dreckwerfer. Michael S. schrieb in Springers Blatt. Drei Jahre lang mischte der Sohn einer Arztfamilie bei journalistischen Ausschreitungen mit, bei Verbal-Vandalismus, bei Kungeleien mit der Polizei, geistiger Brandstiftung, populistischen Barrikadenkämpfen und inszenierten Straßenschlachten.

„Getrieben von Hass“

Was die Berliner Polizei nach jedem 1. Mai „Gewaltexzesse“ nennt, war für Michael S. ein abgekartetes Spiel.“Ich war getrieben von purem Hass auf Andersdenkende“, sagt der 28-jährige Springer-Aussteiger – und man fragt sich, was daran erschreckender ist: Dass ein junger Mann Hass auf etwas verspüren kann, mit dem er die meiste Zeit seines Lebens wohl höchstens im Rahmen der Schulpflicht Kontakt hatte. Oder, dass es lange nach den großen Gesellschaftsdebatten, in einer Zeit fast ohne Ideologien, immer noch Weltsichten gibt, wegen denen Menschen andere Menschen in aller Öffentlichkeit fertigmachen wollen. Denn darum geht es dem sogenannten Boulevard.

In der journalistischen Szene steht der Begriff „Boulevard“ für den gewaltbegeisterten und radikalen Teil einer Reporterszene, deren Angehörige meist tiefschwarz ganz vorn hetzen und die Konfrontation mit der Wahrheit suchen. Ihre Haltung ist einheitlich: Weiss auf Rot sind die traditionellen Farben selbsternannter „meinungsbildender“ Gruppen, die den harten Kern des Boulevards bilden. Früher trug man auch Fahrradhelme oder Regenjacken.

Durch Kai in die Szene

Michael S. rutschte über seinen Schulkumpel Kai in die Szene. „Ich fand Kai faszinierend“, erzählt er. „Er hatte für jedes Argument ein Kompromat. Er war politisch versiert, hochintelligent. Ein strenger Machiavellist. Wir teilten bald dieselbe politische Überzeugung.“ Und schnell war auch klar, dass Michael jetzt mit Kai und dessen Freunden zur Redaktion gehören würde, in der sie so viel Zeit verbrachten.

Am Tag so mancher Demo wurde er dort morgens mit einem BMW abgeholt. „Da war alles schon drin: Kamera, Block und Stift“, erzählt Michael. „Auf den Arm hatte ich dick mit Filzstift die Nummer der Redaktion geschrieben. ‚Wenn einer festgenommen wird, ruf da an‘, hieß es immer.“

Die Strategie während der Demo war fast immer dieselbe. „Den schwarzen Block bilden vorne 20 bis 30 Praktikanten“, sagt Michael. „Wenn du vorne mitmischt, hat dich die Polizei als Agent Provocateur erkannt. Deshalb werden auch erst nach einer halben Stunde von den Seiten oder von hinten die echten Demonstranten festgenommen.

Gewalt – eine Frage von Minuten

Erste Ausschreitungen der Praktikanten waren oft nur eine Frage von Minuten. „Es ist ein Vertrauen aufeinander“, sagt Michael. „Von beiden Seiten. Da reicht ein geübter Blick, ein vereinbartes Wort, damit es losgeht. „Unser Praktikantenblock drängt, schlägt, wirft dann mit Steinen, schießt aus Katapulten mit Stahlkugeln auf die Beamten. Die Polizisten kontern mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern. „Ich habe unzählige Male geblitzt, manchmal sogar bewusst vom Boden, weil mich ein Stein oder eine Flasche fasziniert hatte“, schreibt Michael dann. „Wenn du im Boulevard schreibst“, sagt er, „ist alles um dich herum, alles außer dem Staat, dein Feind.“

Die meisten Leute, die Schulter an Schulter mit ihm in der Redaktion schrieben, kannte Michael S. nicht. Man sah sich erst kurz vor den Demos in den Fahrgemeinschaften im BMW. „Da waren echt alle dabei“, erzählt Michael. „Von Praktikanten bis zu Fotografen, Redakteuren und Volontären.“ Anfangs schrieben auch viele Frauen mit, zu Michaels Erstaunen. Die meisten von ihnen waren mit den Jungs liiert, die in den Ressorts das Sagen hatten.

Viele Gefährten aus dem Verlag sah Michael S. nie außerhalb der Redaktionen. „Das war aber nicht schlimm“, sagt er. „Wenn du losschreibst, bist du trotzdem mit denen eine Einheit. Wie Brüder, man schreibt den anderen rauf, man hilft sich. Wenn einer loshetzt, schreiben alle anderen mit.“

Ficken, Koksen, Disco

Einige Kollegen lud Michael S. schon mal zu sich nach Hause ein. Doch der Kontakt blieb stets lose, auf Ficken, Koksen und Disco beschränkt. Ersteres allerdings am wenigsten: „Es gibt einfach zu viele Leute in der Szene, die in der Redaktion mitlaufen, aber allen Ernstes nicht wissen, wer Axel Springer war“, sagt Michael. „Für die war Konformismus gar nicht wichtig, mehr die Sucht nach heißen Stories mit Gewalt.“

Vor seiner Familie hielt Michael seine Arbeit in der Krawall-Redaktion geheim: „Wenn ich echt wütend war und überall rote Flecken und Zornesfalten hatte, habe ich meinen Eltern erzählt, die Aktienkurse seien gefallen.“

Eines Tages habe seine ältere Schwester ihn sich dann zur Brust genommen. „Sie war die Erste, die durchschaut hat, in welcher Szene ich da eigentlich verkehre.“

Blut

Der Wendepunkt kam für den heute arbeitslosen Geisteswissenschaftler bei einer Reportage über eine angebliche Straßenschlacht in Bremen. „Wir wurden von der Polizei gut gebrieft“, erzählt Michael. „Ich zündete mit ein paar anderen Typen eine Mülltonne an, als mein Kumpel Kai mit Franz-Josef und einem abgehalfterten Spiegel-Redakteur zu uns rüberkam. Der schrie nach Blut, ernsthaft nach Blut.“

„Springer-Aussteiger“ nennt Michael S. sich heute selbst. „Aussteiger“ – nicht „Ehemaliger“. „Ehemaliger würde bedeuten, dass ich irgendwie noch dahinterstünde und mich nicht schämen würde“, sagt er. „Aber das ist nicht so. Ich bin froh, dass diese ganze Sache nicht mehr Teil meines Lebens ist.“

Ein bisschen vorsichtig sein muss Michael aber immer noch. Die extremboulevardistische Szene ist voller Paranoider, die überall Benzinwut, kriminelle Ausländer oder Steuererhöhungen sehen. Sogar auf geheimen Infoblättern in den Redaktionen wird zu immer neuen Skandalberichten aufgerufen. Doch selbst die eigenen Mitschreiber, wie Michael S., haben immer und überall nur so viele Informationen wie unbedingt nötig ist.

Das Leben danach

Das hilft den Anführern des Boulevards auch dabei, ihre privilegierte Stellung als Drahtzieher zu verteidigen. Michael S. hat seinen Freund Kai nie auf den Spiegel-Redakteur angesprochen. Er hat auch seinen Ausstieg aus dem harten Kern der Schreiber nicht ernsthaft mit ihm diskutiert. Er ging einfach nicht mehr hin. „Auszusteigen ist kein Problem gewesen“, sagt Michael S. „Ich bin nicht mehr zu den Redaktionsitzungen gegangen und wurde auch automatisch nicht mehr angerufen. Ich hatte dann schnell Freunde.“

Ab und zu laufe Kai ihm noch über den Weg, sagt Michael. Man sei dann durchaus nett zueinander und unterhalte sich gesittet. „Soweit ich weiß, schreibt er heute noch viele Texte für die Springer-Blätter. Aber darüber spricht er nicht. Zumindest nicht mehr mit mir.“

Lesen Sie morgen: So mobilisiert die Springer-Presse Jugendliche

Update: Geil, das gibt es auch als grünen Block mit Polizei-Aussteigern:
http://de.indymedia.org/2011/04/305630.shtml

Fotos: CC-BY-NC agfreiburg, beatside, muffin9101985

3 Kommentare

  1. dephzon says:

    Schöne Satire. Da hat sich jemand Mühe gegeben. Danke.

  2. Alfred Alias says:

    “Wenn du im Boulevard schreibst”, sagt er, “ist alles um dich herum, alles außer dem Staat, dein Feind.” – Ich kenne Michael S. aus der Zeit als er noch versuchte als PR-Mann ein auskommen zu finden. Hier wurde er für die Skrupellosikgeit der Boulevardszene vorbereitet. Ich weiß, dass er auch gegen den Staat geschrieben hat. Der einzige Freund für ihn war die Quote und das sein Name in der Szene bekannt wurde. Dafür tat er alles.

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