10 Jahre Genua: Die Erinnerung verschwimmt, und doch bleibt alles klar vor Augen

Heute vor zehn Jahren reiste ich mit zwei Freunden, einem mir unbekannten angehenden Doktor und einem Punk nach Italien ein. Wir hatten das Auto der Eltern des Freundes geliehen, ihnen erzählt, dass wir nach Frankreich an den Strand fahren. Stattdessen waren wir auf dem Weg nach Genua. Das Auto tarnten wir mit Wackelelvis, schlechter Schlagermusik, Strandmatten, Flossen, Schnorchel und einer Ausgabe der „Bunte“ auf dem Armaturenbrett. Wir sahen aus wie die letzten Touristen als wir an der Grenze ankamen mit unserer Schlagermusik. Lächerlich hässliche Schirmmützen versteckten die Irokesen von zweien der Mitfahrer. Der italienische Grenzbulle schaute hinein, fragte wo wir hinwollen. „Nach Rimini!“. Er wünschte uns eine gute Fahrt und ließ uns weiterfahren.

Vieles in der Erinnerung verschwimmt, aber es bleibt doch so klar vor Augen, was damals geschah. Ich erinnere mich an die unglaubliche Atmosphäre am Vorabend der großen Proteste als 80.000 junge Menschen auf der „Flüchtlingsdemo“ durch die Stadt zogen. Dieses Gefühl, dass uns nichts stoppen könne, dass wir morgen endlich die Welt ändern und diese acht Arschlöchern, die sich dort trafen, um eine ungerechte Welt zementieren, aus Genua vertreiben würden. Ich erinnere mich, wie wir eine etwa 100 Meter lange Treppe hochliefen mit vielen Demonstranten und irgendwer anfing, die „Internationale“ auf englisch zu singen. Und auf einmal stimmten hunderte andere in ihren Sprachen ein. Mir läuft jetzt noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke.

Dann der nächste Morgen. Am Treffpunkt der Basisgewerkschaft COBAS, wo sich auch „die Autonomen“ treffen sollten. Ich hatte in meinem Leben noch nie soviele vermummte Demonstranten, Helme, Knüppel gesehen. Irgendwann ging es los, Banken wurden entglast und angezündet. Ich erinnere mich an den schwarzen Block, mit dem wir mitgingen, weil wir junge kleine Autonome waren und das spannend fanden. Ich aß geplünderten Parmensankäse und wunderte mich, warum denn eigentlich die Polizei seit zwei Stunden gegen diese 500-1000 Leute, die marodierend durch die Stadt zogen, einfach gar nicht vorging. Dieser schwarze Block zog nicht in Richtung Rote Zone, sondern bog ab in einen anderen Stadtteil. Dann wollten irgendwelche schwarz Vermummte auf einem Parkplatz ein kleines altes kleppriges verbeultes Dreirad anzünden, gossen Benzin in die eingeschlagene Scheibe. Ein Mensch, der heute irgendwo Doktor an einer Uni ist, und ich, gingen mit unseren Wasserflaschen hin und löschten. Wir wurden mit Dachlatten von irgendwelchen Arschlöchern daran gehindert. Heute weiß ich, dass dieser schwarze Block – von Agents Provocateurs durchmischt – der italienischen Regierung die Bilder lieferte, die ihr brutales Vorgehen gegen die Globalisierungsbewegung rechtfertigten sollte.

Wir liefen zurück Richtung Rote Zone und direkt in die Demo der Tute Bianche hinein. Diese Bewegung hatte schon im Vorfeld für Furore gesorgt: mit weißen Overalls, Schienbeinschützern aus Isomatten, Helmen, Gasmasken und allerlei Schutzausrüstung war es ihr Ziel, gewaltfrei aber militant in die Rote Zone vorzudringen. Von diesem Demozug sollte keine Gewalt ausgehen, das war der Konsens. An der Spitze der Demonstration wurden mit Plexiglas verkleidete Baugerüste geschoben, damit die Polizei gar nicht erst in die Demo eindringen konnte. Es war irgendwie früher Nachmittag, ich erinnere mich nicht genau. Mittendrin in dieser Demo schoben wir uns mit 20.000 anderen also in Richtung der abgesperrten Altstadt. Dann ging alles ganz schnell: die friedliche Demonstration wurde mit Unmengen von Tränengas attackiert. Sie schob sich weiter vor. Noch mehr Tränengas. Ich hatte eine Schwimmbrille auf, die mich notdürftig schützen sollte. Doch das Tränengas reagierte zu Blasen und Pusteln an meinen Armen, ich kotzte, so vergiftet war die Luft.

Dann änderte sich die Strategie der Demonstration. Wir reagierten. Wir kämpften zurück. Ich habe in meinem Leben nie wieder so eine Massenmilitanz gesehen. Ich erinnere mich an einen vermummten Familienvater, der mit seinen grauen Haaren an einer Vespa Molotowcocktails baute. Ich sehe sie vor mir, die in spontaner anarchischer Ordnung zusammengestellten Gruppen, die die Aufgaben dieser Straßenschlacht aufteilten. Hier gab es welche, die Bordsteine zerkleinerten und die Steine mit Einkaufswagen nach vorne brachten. Andere schoben Altglascontainer funkensprühend nach vorne, um Barrikaden zu bauen. Ich fing an mit einem Italiener, Wasserschläuche aus den Vorgärten und Häusern auf die Straße zu legen. Der Italiener, ich sehe sein Gesicht noch vor mir, rief immer wieder “ L´acqua de la revoluzione! Das ist das Wasser der Revolution. Tragt es nach vorne und wascht den anderen die Augen aus.“ Über dieser ganzen Szenerie hallte wie ein Schlachtruf immer wieder „Genova libera!“.

Und überall blutende Menschen, heruntergerissene Isomatten von der Schutzausrüstung, Bullenwannen, die mit 50 Stundenkilometern in Menschenmengen hineinfuhren. Gesichter von Tränengas gezeichnet und doch so wagemutig. Ich weiß noch, wie ich jubilierte als irgendwo eine Bullenwanne brannte und ein kluger Kopf von der Tankstelle ein „Chiuso“-Schild holte und es an die Windschutzscheibe klemmte. Das Bild wurde später zum Symbol, es wurde tausendfach als Plakat geklebt.


Foto: Indymedia.org

Ich weiß nicht, wie lange die Straßenschlacht genau ging. Wir kämpften uns nach vorne, trieben die Polizei weg und wurden wieder zurückgeschlagen. Ein blutender Sanitäter saß auf der rechten Straßenseite und wurde von Demonstranten versorgt. Ich hatte meine Leute verloren und war weiter mit dem Wasser der Revolution beschäftigt, baute Barrikaden. Irgendwo in der Nähe der Piazza Alimonda. Es war alles erschreckend und ermutigend zugleich. Nie wieder würde ich so verschiedene Menschen sehen, die sich gemeinsam mit Gewalt, Mut und Courage gegen diese bodenlosen Menschenrechtsverletzungen wehren würden.

An einem Brunnen hörte ich auf einmal den Ruf „Rehlein“. Wir hatten davor in unserer Bezugsgruppe diesen Ruf vereinbart, falls wir uns verlieren würden. Endlich wieder meine Leute gefunden. Geschunden, verschwitzt und voller Tatendran. Dann auf einmal ging das Gerücht herum, dass die Polizei einen Menschen erschossen habe. Dann sollten es auf einmal 2,3,4 Menschen sein, die von den Bullen ermordet worden seien. Irgendwer rief „Polizia asassini“. Dann erschallte es in der ganzen Stadt.

Die Demo der Tute Bianche zog sich zurück, eng gedrängt und mit vielen tausenden ging es raus aus dem Stadtzentrum. Über Lautsprecher wurde verkündet, dass ein Demonstrant von der Polizei erschossen worden sei. Wir waren gebrochen, niedergeschlagen, abgekämpft. Auf einmal war klar, dass dieser italienische Staat, die EU, der G8, es niemals zulassen würden aus ihrem Tagungszentrum vertrieben zu werden. Es war klar, dass sie vor nichts zurückschrecken würden. Im Zweifelsfall wird eben ermordet. Und als nichts anderes kann man diese Hinrichtung aus einem Meter Entfernung bezeichnen. Das Vorgehen der Polizei hatte sich schon im Laufe des Tages abgezeichnet als hunderte von Demonstranten mit brutaler Gewalt verletzt wurden. Und dieser schwarze Freitag sollte nicht das Ende dieser Gewalt sein, am darauffolgenden Samstag griff die Polizei eine Großdemonstration mit 200.000 Menschen an. Die Demo, von der Pax-Christi-Oma bis um toskanischen Anarchisten, wurde aus Hubschraubern mit Tränengas eingedeckt. Menschen sprangen in Panik die acht Meter hohe Kaimauer hinunter. Hunderte wurden verletzt. Und am Abend kam es zur berüchtigten „chilenischen Nacht“ in der Diaz-Schule, in der dutzende Indymedia-Aktivist/innen und Menschen, die einfach dort schliefen, schwer verletzt und misshandelt wurden.

Heute im Rückblick liest sich das hier ein bisschen wie „Opa erzählt aus dem Krieg“. Aber wenn es ein Ereignis in meinem Leben gibt, das annähernd an ein Kriegserlebnis rankommt, dann waren es die Tage von Genua. Es sind nicht nur die Bilder, die sich in meinen Kopf eingebrannt haben, der Geruch des Tränengases, die verzweifelten, mutigen und trotzigen Gesichter. Es ist dieses tiefe Gefühl, die Betroffenheit, diese sonderbare Ergriffenheit, wenn ich an damals denke, wenn ich Bilder und Videos sehe oder darüber spreche. Und seit Genua weiß ich, dass man auf „europäische Werte“ und das Politiker-Gelaber von Demokratie und Menschenrechten nur wenig geben kann. Die Ereignisse von damals haben meinen schon angeschlagenen Glauben an den Rechtstaat nachhaltig zerstört. Im Zweifelsfall knallen sie dich eben ab.

Die rot-grüne Regierung von Schröder und Fischer schwieg zu den Vorkommnissen, die eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte in Europa darstellen. In meinen Augen sind sie dadurch Komplizen von Berlusconi und seiner Polizei geworden. Einzig Christian Ströbele fuhr damals nach Genua, um zu recherchieren.

Zehn Jahre ist es nun her, ich fühle mich alt, wenn ich an die Tage von damals denke. Ich weiß, dass ich vielleicht vieles verkläre, dass dieser Text pathetisch klingt, das viel Revolutionromatik mitspielt. Aber für mich war es der Moment, in dem nichts mehr sein sollte, wie es einmal war. Nur zwei Monate später wurden diese Sätze am 11. September überall ausgesprochen. Der Fokus der Politik änderte sich. Die globalisierungskritische Bewegung sollte nie wieder so stark werden.

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Diesen ergreifenden Film von kanalb kann ich Euch nur ans Herz legen. Schaut ihn an, zeigt in anderen Leuten.

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Update 21.7.: da der Youtube-Film vom Nutzer entfernt wurde, findet habe ich ihn oben ersetzt. Falls das nicht geht:
Film direkt bei KanalB anschauen
WDR-Reportage „Gipfelstürmer – die blutigen Tage von Genua“

Ihr findet außerdem unzählige Schilderungen und Berichte auch auf Indymedia, das damals ein geradezu revolutionäres neues Instrument war, ein Korrektiv für die Mainstreampresse und letztlich Vorläufer von dem, was wir heute Blogosphäre nennen.

3 Kommentare

  1. anarcha says:

    wahnsinn, danke für den text. mir gehts ganz ähnlich mit den erinnerungen von damals…

  2. Nofate says:

    Film wurde durch den Nutzer entfernt?

  3. John F. Nebel says:

    @Nofate: Danke für den Hinweis, habe den Film ersetzt oben.

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