Privatsphäre Z

CC-BY-NC-ND Scott Beale

Michael Seemann hat Recht. Die Privatsphäre ist am Ende.

Das Narrativ des Datenschutzes, „Privatsphäre ist ein Wert an sich“, verfängt nicht mehr. Zwar lassen sich jederzeit Menschen finden, die diesen Satz unterschreiben würden, aber viel mehr als das würden sie dafür eben nicht tun.

Es braucht eben eine zu hohe Abstraktionsleistung, um die Folgen des Verlustes von Privatsphäre und wachsender Überwachung zu durchschauen. Ich behaupte, dass es unmöglich ist, zu antizipieren, welche freiwillig oder unfreiwillig preisgegebenen Daten mir irgendwann in der Zukunft auf die Füße fallen werden.

Denn die Mechanismen, was einem auf die Füße fallen könnte, sind einerseits nicht durchschaubar, weil sie in der Zukunft liegen und auf der anderen Seite auch heute schon absolut intransparent und willkürlich. Reicht es schon aus, Kritisches zur Überwachung zu schreiben, um wie Ilija Trojanow die Einreise in die USA verweigert zu bekommen? Reicht ein Mailverkehr mit einer Kneipe in Nashville, um bei Grenzern die Warnleuchte einer potenziell illegalen Arbeitsaufnahme in den Staaten aufleuchten zu lassen? Ist der letzte Tweet vielleicht der Beginn einer allumfassenden Überwachung durch den Verfassungssschutz?

Hier sind wir bei der Schere im Kopf. Doch das Konzept einer Schere im Kopf, die durch Antizipation der Folgen „gefälliges“ Verhalten produziert, ist viel zu abstrakt. Ein befreundeter Gymnasiallehrer erzählte mir, dass man damit bei Schülern auf Unverständnis trifft. Denn dieses Konzept setzt ein Misstrauen gegenüber den Herrschenden voraus und die Furcht, dass das eigene Verhalten unberechtigterweise (also illegitim) negative Folgen für einen selbst haben könnte. Wer davon ausgeht, dass er immer legal im Fahrwasser des angepassten Mainstreams unterwegs ist, kann bewusst gar keine Schere im Kopf entwickeln. Und diese dann erst recht nicht als Argument für Privatsphäre oder abstrakte Konzepte wie Grund- und Freiheitsrechte zu Felde führen.

Das ist der Grund für das von Seemann genannte Privacy-Paradox:

Das Ergebnis der Bundestagswahl erinnert vielmehr an ein Phänomen, dass Forscher das Privacy-Paradox nennen. Das Privacy-Paradox beschreibt die Beobachtung, dass in allen Umfragen und persönlichen Gesprächen der Schutz der Privatsphäre als extrem wichtig angegeben wird. Gleichzeitig aber führt das nur in seltensten Fällen dazu, dass Menschen auch nur das Geringste dafür tun.

Richtig ist: Privatsphäre ist inhaltsleer geworden. Sie bedeutet den Menschen nichts mehr. Sie ist ein Zombie.

Schön. Nur ändert das leider nichts an der folgenden Tatsache:

Solange es Herrschaftsverhältnisse gibt, ob nun Polizisten, Chefs oder die NSA, wird Privatsphäre für die Freiheit des Individuums eine zentrale Rolle spielen.

Am Konzept der Privatsphäre hängt:

1) die Freiheit zu denken und zu sagen, schreiben, machen was man will.
2) das Versprechen frei von Diskriminierung und Sanktion zu sein.
3) ein Ausgleich gegenüber der Macht und Gewalt des Staates.

Fehlt Privatsphäre, müssen wir fürchten, dass abweichendes Denken und Handeln noch stärker zu Diskriminierung und Sanktion führt. Dabei wird der Rahmen, was zu Sanktionen oder Diskriminierungen führt, immer durch Herrschaftsverhältnisse definiert werden.

Das Ende der Privatsphäre, wie wir es gerade erleben, ist in diesem Sinne eine totale Niederlage. Wir haben die Privatsphäre verloren, ohne dass sich an Hierarchien, Herrschaft und Kontrolle etwas verändert hätte. Im Gegenteil sogar zementiert sich Herrschaft durch den Verlust der Privatsphäre. Sie baut ihre Macht auf unsere Kosten aus – und es wird immer schwieriger diese zurück zu gewinnen.

Von dieser Warte aus gesehen sind die Seemanns und Sixtusse dieser Welt, die vorauseilend ihren Gen-Code oder ihren Aufenthaltsort in die Welt posaunen, mindestens genauso hilflos, wie die Datenschützer, die mit immer weniger Erfolg versuchen, ihre Rest-Privatsphäre zu schützen.

Sie ändern nichts an den Machtverhältnissen. Und egal, ob wir nun Daten freiwillig – wo auch immer – preisgeben oder dies unfreiwillig tun. Wir haben das Problem des durch Herrschaft manifestierten Informationsvorsprungs: Die Mächtigen lesen Deine Akte. Du nicht ihre.

An dieser Tatsache ändert sich nichts, wenn ich die Privatsphäre für tot erkläre. „Die Mächtigen“ werden weiter durch Überwachung investigativen Journalismus und Leaking immer unmöglicher machen. Auch hier erleben wir einen Machtverlust, einen demokratischen Kontrollverlust, der dem Ende von unbeobachteter Kommunikation (vulgo: dem Ende der Privatsphäre durch allumfassende Überwachung) geschuldet ist.

Michael Seemann will diese „konkreten Gefahren“ vom Begriff der Privatsphäre abtrennen:

Es gibt also nach wie vor genug plausible Gründe und konkrete Gefahren, die man statt des abstrakten Begriffs Privatsphäre ins Feld führen kann, um gegen Überwachung zu kämpfen.

Doch sind diese „konkreten Gefahren“ überhaupt ohne das Konzept der Privatsphäre denkbar? Scheitert das Narrativ der konkreten Gefahr nicht genauso an denjenigen, die diese Gefahr aufgrund ihrer gelebten Konformität denken für sich ausschließen zu können? Und führt das Ende der Privatsphäre nicht dazu, das uns nur die letzte Option bleibt: Herrschaft, Hierarchien und Kontrolle zu beseitigen, um frei als Individuuen zu leben?

Man kann die Zuspitzung der Überwachung, den Verlust der Privatsphäre und die jetzige Diskussion auch positiv sehen:

Mitt­ler­wei­le hat sich er­freu­li­cher­wei­se die Be­trach­tungs­brei­te ver­grö­ßert, so dass auch ge­sell­schaft­li­che Macht-​ und Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­hält­nis­se nicht mehr un­be­se­hen blei­ben (kön­nen).

Das mag in der Theorie richtig sein. Und es ist gut, wenn wir diese Macht- und Diskriminierungsverhältnisse konkret benennen und bekämpfen. Doch niemand, der klaren Verstandes ist, kann ernsthaft davon ausgehen, dass irgendwer in Deutschland anfängt irgendwelche Herrschaften zu beseitigen. Das ist um ein Vielfaches abstrakter als das Konzept der Privatsphäre.

15 Kommentare

  1. mspro says:

    Ich sehe das ganze nicht so pessimistisch. 1. Trifft der Kontrollverlust die Mächtigen im proportional schlimmer, als die Unterprivilegierten und 2. ergeben sich durch ihn ebenfalls neue Handlungsspielräume. Zum zweiten Punkt siehe mein Spex-Text und die 10 Thesen. Zum ersten Punkt muss ich noch mal einen grundsätzlichen Text schreiben, sorry. Aber ist in der Mache.

  2. eddlex says:

    Ich persönlich bin noch nicht bereit, jetzt schon den Schluss zu ziehen, dass die Privatsphäre inhaltsleer geworden ist. Wir müssen doch vorher zumindestens versuchen zu verstehen, warum so viele Menschen gegen ACTA auf der Straße waren, warum diese heftigen Reaktionen auf Google Streetview da waren und was die zugrundeliegenden Ursachen für das Privacy-Paradox sind ! Ich finde Michael Seemann und co. ziehen hier den falschen Schluss. Nur weil bei der NSA(etc ..) die richtig große Empörung ausbleibt heißt doch eben nicht dass die Menschen weltweit plötzlich kein Interesse mehr an Privatssphäre haben. Das hat anscheinend komplexe Gründe und wir müssen die verstehen um entsprechend handeln zu können. Irgendwelche „Narrative“ zu begraben führt zu nichts mehr als Zeitverschwendung und vielleicht dem ein oder anderen Artikel in der Zeit oder bei SpOn.

  3. K. says:

    Auf den Text zu 1.) bin ich ja mal gespannt. Den Versicherungskonzern trifft es also proportional schlimmer als den Menschen, dessen Merkmale die Versicherung davon abhalten ihn zu versichern. Das Unternehmen schlimmer als den Menschen, der keine Arbeit mehr kriegt, und die Wohnungsbaugesellschaft schlimmer als diejenige, deren zusammengesammelte Daten stark dafür sprechen, ihr nie wieder eine Wohnung zu geben.

  4. Thomas K. says:

    Vielleicht gibt es auch einfach den falschen Erklärungsansatz für den Kampf gegen das Eindringen in die Privatsphäre. Viele meinen ja, dass die Arbeit der Geheimdienste sie nichts angeht. Aber NSA&Co. sind ja nicht das einzige Problem bei Big Data.
    http://blogvonthomas.wordpress.com/2013/10/15/im-personlichen-leben-bin-ich-eher-zuruckhaltend/

  5. mspro says:

    Hab doch noch schnell was zusammengetippt: http://mspr0.de/?p=3812

  6. DaFisch says:

    Vollste Zustimmung zur Analyse und besonders für die pessimistische Schlussfolgerung.

    Du stellst die m.E. richtigen Fragen. Und meine alltäglichen Erfahrungen zeigen, dass die Antworten darauf nur noch zu mehr Pessimismus führen.

    Unsere Gesellschaftsordnung (mit ihren existierenden Herrschaftsverhältnissen) ist unglaublich stabil und kann sich erstaunlich gut gegen Bedrohungen von Innen und Außen wehren. Das kann man gut im Großen (siehe Erfolg der Konservativen bei der BTW) und im Kleinen (siehe alltäglichen Schwachsinn der in Konzernen passiert) beobachten.

  7. Martin Däniken says:

    Mein Ansatz ist die Frage der Interpretation? Die gesammelten Daten stellen so keine Bedrohung der Privatsphäre dar,leicht provokant gesagt.Erst der Einsatz von Algorithmen bringt Ordnung und Sinn.Geheimdienste müssen um ihre Etats rechtfertigen zukönnen „Erfolge“ vorweisen. Ein Punkt ist die Kombination von Timing und Frequenz der Kommunikation bei der Vorbereitung von Anschlägen,ein weiterer nicht ganz unwichtiger die Finanzierung (Hawala) und dann das Personal, muss auch sich mit einander in Verbindung setzen . Ich kann mir vorstellen das diese Parameter durch Formeln berechenbar sind. und ganz wichtig die Nsa und Konsorten sind nicht die Stasi-bei der guckte noch ein Mensch drüber ;-). Je nach Automatisierunggrad wird das Ergebnis der Berechnung direkt an eine Killerdrohne weitergegeben- O.k. das ist SF,noch.Aber die menschliche Komponente weil fehlerhaft aus dem „Spiel“zunehmen ist ernsthaft in Vorbereitung.
    Das ist was viele nicht (mehr) nachvollziehen können, die nicht mehr existierende Menschlichkeit!

  8. Martin Meier says:

    Vorweg, ich bin beruflich im Geheimen tätig .

    Für uns in der Intelligence Community könnte es derzeit nicht besser laufen. Sicherlich hat Edward Snowden mit seinen Enthüllungen etwas Unruhe bei uns ausgelöst und wir mussten die Desinformationsaktivität signifikant erhöhen. Aber letztendlich sind Edward Snowdens Enthüllungen langfristig ein Geschenk für unser Metier.

    Nun wissen wir endgültig, dass wir mit keinem nennenswerten Widerstand aus dem Volk rechnen müssen. Die kleine Minderheit von Bürgerrechtlern und Datenschützern haben wir dank elektronischer Aufklärung, verdeckter Agenten und Zersetzungsmaßnahmen sehr gut im Griff.

    Die große Masse der Menschen ist Gott sei Dank derart naiv, unkritisch und obrigkeitshörig, dass uns das die Arbeit sehr erleichert. Wir können uns darauf verlassen, dass einfachste Propaganda zuverlässig Wirkung zeigt. Ob Terrorgefahr, OK, KiPo oder Ausländerkriminalität, in jeder Situation funktioniert eine dieser Rechtfertigungen, um unsere Macht zu sichern und immer weiter auszubauen.

    Zum Abschluss möchte ich den Diskutanten hier noch etwas mit auf den Weg geben:

    Jeder von Ihnen sollte sich rechtzeitig überlegen, wie weit er mit seinem Widerstand oder Ungehorsam gehen will. Jeder sollte sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen will.

    Denn jeder von Ihnen hat etwas zu verlieren. Im unwahrscheinlichen Fall, dass wir nichts Kompromittierendes bei Ihnen finden, um Sie bei Bedarf zu erpressen oder zu diskreditieren, dann schieben wir Ihnen entsprechendes Belastungsmaterial unter. Ihre Existenz ist dann ruiniert.

    Sie haben keinen Einfluss darauf, wie Ihre Datenspuren interpretiert werden und Sie werden keine echte Chance haben, sich erfolgreich zu verteidigen.

    Ihre Aufgabe als einfacher Bürger ist es, zu funktionieren: Arbeiten, Konsumieren, Gehorchen. Scheren Sie nicht aus der Reihe. Passen Sie sich an.

    So sieht es aus. Wir haben gewonnen. Es wird kein neues 1989 geben. Das haben wir aus der Geschichte gelernt. Die moderne Technik hilft uns dabei.

  9. Martin Däniken says:

    Wir sind die Borg.Widerstand ist zwecklos.

  10. Thomas K. says:

    Ich wäre ja fast geneigt @mspro Recht zu geben mit seinem Text. Aber ich sehe hier eigentlich die Privatsphäre als das „Recht des freien Menschen“ an. Dieses Recht ist für mich schützenswert.
    http://blogvonthomas.wordpress.com/2013/11/04/ist-privatsphare-eine-bourgeoise-phantasie/

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