Tim Lüddemann ist Journalist und hat von den G20-Protesten berichtet. Im Gastbeitrag schildert er seine Eindrücke vom Gipfel und von dem, was jetzt gerade passiert.
Seit mehreren Jahren berichte ich von Demonstrationen und politischen Ereignissen. Sowohl mit Fotos, als auch mit Texten. Ich habe Demonstrationen von Linksradikalen und Neonazis begleitet, war auf der Balkanroute und an der syrischen Grenze unterwegs, war bei Blockaden dabei und hab die Proteste in Tagebauten dokumentiert. Aber ich habe mich noch nie so unwohl im Nachgang meiner Arbeit gefühlt, wie jetzt nach den G20-Protesten. Und das liegt nicht vordergründig an den Aktionen militanter Gewalttäter im Schanzenviertel.
Es macht mir Angst, wie sich die Polizei während der Proteste verhalten hat. Sie hat den Rechtsstaat gebeugt und verdreht, wie es ihr passte. Sie hat eine 38 Quadratkilometer große Zone innerhalb einer deutschen Großstadt ausgerufen, in der sich nicht versammelt werden durfte, um gegen ein höchst problematisches Treffen zu demonstrieren. Sie hat Journalist*innen permanent eingeschüchtert und angegriffen – ich selbst habe am Freitag abend einen Schmerzschlag von einem sächsischen Polizisten auf das Ohr bekommen. Zum Glück hatte ich das einigermaßen geschützt. Andere Kollegen wurden mit Pfefferspray, Tritten und Schlagstöcken malträtiert. Polizeikräfte haben auch Demonstrationen und zivilen Ungehorsam mit äußerster Brutalität angegriffen. Wie im Wahn, als ob sie alles plattmachen müssten, was nicht nach bürgerlicher Gehdemo aussieht. Egal, ob es sich um gewaltfreie Blockaden oder um eine friedliche Tanzkundgebung handelte.
Die Polizei ist keine unfehlbare Kraft
Ich bekomme Angst, wenn ich höre, wie die Parteienpolitik und die Zivilgesellschaft im Nachhinein über die Proteste sprechen. Die Gewalt und die Verfehlungen der Polizei werden gar nicht thematisiert. Stattdessen große Dankesbekundungen und Inschutznahme vor jeglicher Kritik. Die Polizei ist keine unfehlbare Kraft und in einem Rechtsstaat und in einer Demokratie sollte ihr Handeln kritisch begleitet werden. Nur in autoritären Regimen werden Sicherheitskräfte kritiklos gewürdigt und nicht hinterfragt.
Es bereitet mir Angst, wie über die Gewalt der Demonstrierenden diskutiert wird. Sie wird verurteilt, es wird sich darüber empört und das ist vollkommen richtig. Sie wird aber nicht eingeordnet und sie wird nicht hinterfragt. Stattdessen wird sie pauschalisiert und die gesamte linke Szene in Kollektivschuld genommen. Ein Reflexverhalten, wie bei vielen Minderheiten: ob Muslime, Geflüchtete oder Linksradikale – benehmen sich einige von ihnen daneben, wird die ganze Gruppe für schuldig befunden und bekämpft. Und die Gewalt wird komplett überhöht: es war ein auf das Schanzenviertel begrenztes Phänomen einiger hundert Personen, die überall aus Europa angereist waren. Es handelt es sich hier nicht um einen Bürgerkrieg und die Vorkommnisse haben zu keinem Zeitpunkt die freiheitliche Gesellschaft als Ganzes gefährdet. Ganz im Gegensatz zu der momentanen Debatte. Da wird pauschal die Schließung linker Zentren gefordert oder eine europäische Extremismus-Datei, in die jeder wandert, der politisch irgendwie auffällig ist. Das bekämpft keine Gewalttäter, sondern politische Vielfalt.
Ich habe Angst, dass die deutsche Gesellschaft sich ähnlich autoritär entwickelt, wie das in anderen Staaten der Fall ist. Ich habe das Gefühl, dass jede Perspektive, die sich zu weit von der Mehrheit entfernt, für die Gesellschaft ein Problem ist. Meinungen werden nicht qualitativ, sondern nach ihrer Massentauglichkeit beurteilt. Statt sich selbst eine Überzeugung zu bilden, reagieren die Menschen nach einem Echo von populistischen Medien und Politikern. Und die versuchen die aktuelle politische Situation als ‚optimal‘ und ‚richtig‘ darzustellen und wer diese grundlegend kritisiert, ist verdächtig. Wer sich alternativ äußert, einen Systemwechsel fordert, wird beleidigt, diffamiert und entblößt. Kritische Journalist*innen werden eingeschüchtert und behindert.
Und ich habe Angst, dass in dieser ganzen Entwicklung die Probleme unbesprochen bleiben, wegen der die Menschen überhaupt gegen G20 auf die Straße gegangen sind. Die Gesellschaft regt sich zu recht über brennende Barrikaden und geplünderte Supermärkte auf. Aber sie schweigt bei den Toten in Syrien, Irak und im Mittelmeer. Sie schweigt über bis zu 30.000 Hungertote jeden Tah. Und sie schweigt über die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Das alles hat mich immer schon beunruhigt. Aber seit ich bei G20 war, macht es mir Angst.
PS: Ja, mir haben auch die Krawallen im Schanzenviertel, bei denen ich mittendrin war, Angst gemacht. Aber tatsächlich nicht so große Angst, wie die momentane Entwicklung.
Danke für diesen Kommentar. Stimme voll zu. Es gab 3 Seiten bezüglich G20 in HH. Politiker, Polizei und Demonstranten. Auf allen 3 Seiten gab es Schweinebacken, Politiker die G20 um jeden Preis in HH haben wollten und gewalttätige Idioten bei Polizei und Demonstranten. Für mich bedeutet das es müssen auf allen 3 Seiten auch alle Schweinebacken zur Verantwortung gezogen werden!
Ebenso finde ich es wichtig das mehr und verstärkt über friedliche Demos berichtet wird und im Zusammenhang damit auch über die wirklich kritischen Gründe dafür.
Ich teile diese Ansicht und werde den Eindruck nicht los, dass da Absicht dahinter steckt.
Die traumatisierenden Erlebnisse, über die zur Zeit viele Polizisten berichten, sind wahrscheinlich echt. Aber ich befürchte, dass diese Polizisten durch die gewollte Eskalierung durch ihre Vorgesetzten sowie einiger Zivilfahnder im „Schwarzen Block“ regelrecht systhematisch verrraten und verkauft wurden. Und jetzt betreibt man mit dem Leid dieser Polizisten auch noch Marketing. Wir werden gerade Alle gewaltig über den Tisch gezogen.
Wie kann der Politik auch an der Aufarbeìtung gelegen sein? Scholz hat sich entschuldigt dafür, dass er für hunderte verletzte und traumatisierte Bürger und Polizisten verantwortlich ist.
Dass Menschen mit Freibrief in einer Position wie die Polizei Gewalt anwenden, ist traurig, aber nun, leider menschlich. Diese Fälle müssen verfolgt werden, aber dass es dazu kam, dass hat allein unsere Politik zu verantworten, die aber weiterhin in ihrer inneren Elphi schwelgt. Die Legitimation duch die Angstbürger tut ihr übriges und somit hat der G20 dieser schönen Staat eine bleibende Narbe in der politischen Kultur verpasst. Zu befürchten bleibt, dass sich bei den nächsten Bürgerschaftswahlen niemand mehr daran erinnert.
Mir geht es nicht anders als Tim. Obwohl ich nicht vor Ort war, habe ich seit G20 Sorge.
Ich habe „G20“ in einer Chat-App und nebenan in Gruppen bei Whatsapp… erlebt. Da, wo man sonst über Familie redet oder Konfirmationsfotos teilt oder sich sonst zu ner Runde Zocken auf der Konsole verabredet. Freizeiträume, quasi.
Da schreibt plötzlich einer: „Notstand ausgerufen! Bundeswehr im Einsatz!“. Postet Videos, Bilder. Ich lese das und denke mir mit Resten von Volontariat und Rechtskunde: Nana, so schnell wird niemand eine staatsgefährdende Krise ausrufen. Ich tippe also um Beruhigung, frage nach, kläre Quellen und ringe um Differenzierung. Jetzt bloß keine Schnappatmung! Verweise auf die Polizei Hamburg, die all das ordentlich dementierte. Dafür werde ich denunziert und angegriffen, als linker Aktivist und Verharmloser gebrandmarkt. Es folgten Bilder, die mit Hamburg teils nichts und gar nichts zu tun hatten. Hauptsache Stimmung. Es war wie ein Mob.
Nebenan, in der Familiengruppe bei Whatsapp, dreht der Volkszorn ebenso frei. Höchststrafen werden gefordert, Standgerichte, weg mit dem Gezücht. Ich traue mich nicht mehr, etwas zu sagen.
Auch in den Tagen danach bleibt die Stimmung in meinem Umfeld seltsam aufgeheizt. Viele Versuche, zu differenzieren, werden wiederholt als Verharmlosung verteufelt. Ich bleibe zurück mit dem Gefühl, nicht so recht zu wissen, was da in Hamburg eigentlich passiert ist. Weder bei den Einsatzkräften noch bei den Menschen, die alle als „linksextreme Chaoten“ beschreiben, noch bei den Bürgern. Die mediale und politische Diskussion und Tiefe erscheint mir seltsam losgelöst. Die Fahndungsaktion drüben bei Bild – mir wird übel. „Wieso, endlich macht mal einer was!“, sagt der Nachbar.
Ich sehe bei Twitter Videos, die mich fassungslos und ängstlich machen. Ich sehe Polizeigruppen, die sich in beängstigenden, unübersichtlichen Situationen… behaupten müssen, in denen ich einfach weglaufen würde. Die Aggression in der Luft ist unfassbar. Ich frage mich, wer sie dafür ausbildet. Wer sie darauf vorbereitet. Wer das nachbereitet. Wie man lernt, in so einer Stimmung… Herr aller Sinne und Kräfte zu bleiben. Wer einem dafür dankt.
Ich sehe und lese andere Situationen, in denen Einsatzkräfte mit kaum nachvollziehbarer Härte gegen Menschen vorgehen und jedes Maß verlieren.
Ich sehe und höre die Angst, Wut und Sorge von Anwohnern.
Ich sehe und höre die bunten Demonstrationen. Was die Leute da vorschlagen, was ihre inhaltliche Nachricht ist, höre ich nicht. Was viele Medien liefern, illustriert eher Folklore. Der Marsch der Gerechten, na dann ist ja gut.
Ich sehe gut gekleidete Staatenführer, die weltfremde Allgemeinplätze absondern und viele Handschüttelrituale.
Ich sage am Telefon scherzhaft zu einem Freund: „Wir scheißen uns ein, weil in Hamburg zwei Tage Randale ist. Ich glaube, ein beängstigend großer Teil der Weltbevölkerung schüttelt bei unseren Sorgen ratlos mit dem Kopf. Diese Menschen würden für unsere Lebensbedingungen dankbar in die Hände klatschen.“ Nein, ich wolle damit nichts verharmlosen. Ja, das ist mein tapsiger Versuch, darauf hinzuweisen, dass uns irgendwie das Gesamtbild verloren zu gehen scheint. Die Welt ist kein friedlicher Ort. „Wir“ haben damit zu tun. Und all das Chaos und die Gewalt und die Spucke und der Geifer in Hamburg spiegeln das wieder. Zeigen die offenen Wunden. Wir sollten, fuck, nein, wir müssen genauer hin- statt weggucken. Vorurteile, Reduzierungen und Verallgemeinerungen *sind* weggucken. Es wird nicht besser, wenn wir den Eiter immer neu bedecken.
Nebenan, im Familienchat, meldete sich übrigens auch eine Verwandte. Sie arbeitet bei Sondereinsatzkräften, in vorderster Front, in Hamburg. Und was schreibt sie? Sinngemäß: Hey Leute. Bleibt mal ruhig. Nix da mit Notstand. Die Lage hier ist mehr als unübersichtlich, das stimmt. Aber das wird nicht besser, wenn wir jetzt alle am Rad drehen. Sonst verlieren wir alle das Maß. Es geht mir gut, es geht uns gut. Dreht nicht durch. Bewahrt Augenmaß.
Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie gut mir diese Worte taten.
Trotzdem. Seit Hamburg bleibt ein Gefühl der Entfremdung. Ich fühle mich nicht gut aufgehoben und habe Zuversicht verloren.
Danke für diesen Kommentar! Den meisten hier scheint es nur um eine Gruppierung zu gehen statt auch Ursachen für das Durcheinander objektiv zu betrachten… Polizisten waren jedenfalls im Gegensatz zu vielen anderen NICHT freiwillig in der Hölle…
…daß es eine ganze Woche gedauert hat, bis zugegeben wurde, daß die Anzahl der verletzten Polizisten absichtlich übertrieben wurde, indem man auch alle kranken Polizisten und dehydrierten Polizisten einfach zu den „verletzten“ Polizisten dazugezählt hat, zeigt doch schon, daß künstlich eine Empörung erzeugt werden sollte…so werden aus 460 verletzten Polizisten also schonmal nurnoch 230.
Und bei den wirklich verletzten Polizisten geht ein Großteil der Verletzungen auf das Konto des eigenen Tränengases.
Daß es sich um internationale Proteste handelte, wird auch gekonnt unterschlagen- immer klingt es so, als kämen die Täter aus dem Schanzenviertel: eine gewollte Auslassung.
Daß jetzt Fußfesseln für linke „Gefährder“ gefordert werden, ist auch interessant: rechte „Gefährder“ will man mit sowas offensichtlich nicht belasten.
Warum wird sowas, wenn schon, dann nicht für ALLE Gewalttäter gefordert, statt einen Unterschied zu machen zwichen links und rechts?
Bisher hieß es immer: „Fußfesseln für islamistische Gefährder!“.
Hat schonmal jemand etwas gehört von einer Fußfessel-Forderung für Hooligans und Rechte?
Oder von einer Schließung derer Treffpunkte?
Nach 2 Jahren des stetigen Terrors mit täglichen Brandstiftungen?
Konmt es niemandem merkwürdig vor, daß es nur 49 Festnahmen gab?
Das läßt die Möglichkeit offen, daß so einige Aktionen auch auf das Konto von Lockspitzeln gehen- wie in Heiligendamm und Stuttgart.
Lockspitzel benutzen gerne Tränengas, weil man ungern Steine auf die Kollegen schmeißt- es gab viele Verletzte bei der Polizei durch Tränengas…Nachtigall, ick hör dir trapsen.
Hier bei uns in Köln hatten wir schon unser eigenes G20: 5000 HOGESA-Hooligans haben einen Tag lang gegen „salafistische Gewalt“ protestiert…indem sie einen Tag lang Polizisten und Passanten angegriffen haben, Geschäfte geplündert haben…Medienecho: gleich null.
Aber 5000 organisiert schlägernde Hooligans sind halt keine Gesetzesänderung wert- im Gegensatz von 1000 grabschenden „Nafris“.
Am Ende dieses Tages waren halbsoviele Polizisten verletzt wie insgesamt beim G20-Gipfel…wie gesagt: Medioenecho gleich null.
Da hielt sich die Entrüstung und die Panik der Polizei auch in Grenzen…kann man halt nix machen…so sind sie halt, unsere Hools.
Am Ende kam raus, daß dieses HOGESA-Gründungsmitglied, das die Demo geplant hat, ein Verfassungsschutz-Agent war…er ist dann kurz darauf „an einer unerkannten Krankheit gestorben“- man kennt das ja aus dem NSU-Prozeß, wo bisher 5 Belastungszeugen zufällig gestorben sind…
„Ich habe das Gefühl, dass jede Perspektive, die sich zu weit von der Mehrheit entfernt, für die Gesellschaft ein Problem ist“ – für die Gesellschaft oder vielleicht nicht doch eher primär für viele Politiker, die möglicherweise vielleicht doch nicht so der Förderung von Aufklärung, Toleranz und Liberalität verpflichtet sind, wie sie es gerne glauben machen?