Sprachliche Abrüstung – eine Sammlung besonnener Artikel zu den Anschlägen in Paris

Foto: CC-BY-SA Alan Burnett

Viel größer als die kaum vorhandene individuelle Angst vor Terror, ist meine Angst vor dem, was Terror mit unseren Gesellschaften macht. Und während die Kriegstrommeln geschlagen werden, der Ausnahmezustand verhängt, die Hardliner noch mehr Überwachung fordern, gibt es auch unzählige Stimmen, die zur Mäßigung aufrufen. Stimmen, die andere Aspekte betonen. Stimmen, die andere Lösungen als Krieg und Überwachung anbieten. Eine sprachliche Abrüstungsbewegung, wie es jemand auf Twitter nannte.

Als gemeinschaftliche Recherche (danke an alle!) ist dabei eine lange Liste der wichtigen leisen Töne entstanden.

Sonia Mikich kommentierte in den Tagesthemen:

„Vernunft, nicht Misstrauen möge die Politik leiten“

Cory Doctorow schreibt bei BoingBoing, dass der Westen Gefahr laufe, das Spiel des IS mitzuspielen:

If the crimes of the Paris attackers can be leveraged into military attacks on middle-eastern states with high collateral damage; invasive domestic surveillance and racial profiling and harassment by police; as well as the legitimization of Islamaphobia at large, then the terrorists will have achieved their goals.

Rieke Havertz von der taz kommentiert in „Angst ist ein Arschloch“, dass man schauen müsse, wie die Reaktionen auf den Terror Gesellschaften verändern würden:

Geblickt werden muss aber auch auf das vermeintlich Kleine, das Gesellschaftliche, das Alltägliche. Dort haben sich die AmerikanerInnen treiben lassen von der Rhetorik vieler Politiker – die diese in Anbetracht der Anschläge in Frankreich eilig wieder in ihren Präsidentschaftswahlkampf aufgenommen haben – und den eilig verabschiedeten Gesetzen. Aber auch immer wieder von ihrer eigenen Paranoia. Sicherer ist ihr Leben dadurch nicht geworden. Nur weniger frei.

paris-cc-by-sa-alan-burnett2
Christian Rath und Andreas Zumach konstatieren in der taz, dass sich Frankreich nicht im Krieg befinde und dass die Terroristen ein Fall für das Strafrecht seien:

Die Verhinderung von Attentaten in Frankreich ist eine Aufgabe der Polizei. Auch angehende Terroristen dürfen nicht vorsorglich hingerichtet werden, schon gar nicht im Ausland.

Heribert Prantl erinnert in seinem Artikel „Man darf der Kriegslogik nicht auf dem Leim gehen“, dass Krieg, die Entgrenzung des nationalen Strafrechts sei. Dabei sei der Einfluss des Terrorismus auf unsere Gesetze schon heute immens:

Überall in den Staaten der westlichen Welt – in Washington, London, Paris und Berlin – wurden nach dem 11. September 2001 vergiftete Paragrafen und Gesetzesartikel produziert. Die Terroristen sind zwar nicht, wie das verschiedentlich befürchtet worden war, in Atomkraftwerke und Wasserversorgungsanlagen eingedrungen; sie haben stattdessen beherrschenden Einfluss genommen auf die Apparate, in denen Recht produziert wird – sie veränderten die Sicherheitsarchitekturen der Staaten der westlichen Welt grundlegend, sie entwerteten das klassische Strafrecht.

Nils Minkmar kommentiert bei Spiegel.de:

Das wird nicht dadurch geheilt, dass man verspricht, künftig dies und das zu tun, damit die Mörder keine Chance haben – nächstes Mal. In Wahrheit ist diese Schutzlosigkeit, die Fragilité das Kennzeichen unserer offenen Gesellschaft und die hohe Zahl der Opfer ihr Preis. Diese Wahrheit sollten wir uns ehrlich eingestehen. Eines Tages werden auch die islamistischen Terroristen, wie all solche Mörder vor ihnen, auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, fröhlich entsorgt von gerade jenen Menschen, die sie erleuchten wollten. Aber das wird dauern.

Markus Feldenkirchen kommentiert bei Spiegel.de die Reaktionen auf der politischen Rechten – von Söder bis Bachmann – und stellt dann fest:

Wollen wir den Dschihadisten ein Schnippchen schlagen, müssen wir die Willkommenskultur gerade jetzt beibehalten und so viel in die Integration dieser Flüchtlinge investieren, damit diese für die Radikalen unerreichbar bleiben. Den größten Gefallen täten wir den Terroristen, wenn wir unsere Freiheit nun selbst einschränken. Wenn wir unsere Grenzen schließen, unsere Humanität verraten, unsere Toleranz, das Grundrecht auf Asyl und all die anderen zivilisatorischen Errungenschaften. Wenn wir so werden, wie wir nie sein wollten.

Beim Freitag fordert Nils Markwardt aus der Community, dass wir dem Hass Liebe entgegensetzen sollen und erinnert an Karl Jaspers:

„Würde beispielsweise die Überwachung der Bürger total, so wie es schrittweise gerade in Großbritannien passiert, bliebe am Ende von dem, was wir in Europa zu Recht als so schützenswert erachten, nicht mehr viel übrig. Oder in den Worten des Philosophen Karl Jaspers: „In der Freiheit ist zwar das Verderben groß, das völlige Verderben möglich. Ohne Freiheit aber ist das Verderben gewiss.“

Auf Liebe setzt auch Dominik Wurnig bei Krautreporter. Er versucht die Reaktionen in Norwegen auf Breivik und die jetzt in Frankreich zu vergleichen und kommt zum Schluss:

Dennoch kann Frankreich genauso wie Norwegen mit mehr Offenheit, Liebe, Großherzigkeit und Liberalität reagieren. Die Attentäter zielten in Paris auf die Lebenslust junger Menschen: ein Rockkonzert, Cafés, ein Fußballmatch. Auch Frankreich, ja die ganze Welt kann auf solchen Terror mit mehr Lebenslust und weniger Gewalt reagieren. Denn das ist das genaue Gegenteil des IS-Terrors.

Bettina Gaus von der taz fordert, dass sich die Reaktionen auf die Finanzierzung des IS konzentrieren sollen bei gleichzeitiger Einschränkung von Waffenexporten. Zudem ist sie überzeugt:

Einen vollständigen Schutz vor Anschlägen gegen „weiche“ Ziele wie Restaurants, Sportstadien und Konzerthallen gibt es nicht. Nicht einmal bei Einrichtung eines Polizeistaats.

Auf The Intercept verwehrt sich Glen Greenwald gegen die Anschuldigungen gegen Edward Snowden, dieser habe mit seinen Veröffentlichungen der Massenüberwachung, erst die Anschläge ermöglicht:

One key premise here seems to be that prior to the Snowden reporting, The Terrorists helpfully and stupidly used telephones and unencrypted emails to plot, so Western governments were able to track their plotting and disrupt at least large-scale attacks. That would come as a massive surprise to the victims of the attacks of 2002 in Bali, 2004 in Madrid, 2005 in London, 2008 in Mumbai, and April 2013 at the Boston Marathon. How did the multiple perpetrators of those well-coordinated attacks — all of which were carried out prior to Snowden’s June 2013 revelations — hide their communications from detection?

paris-cc-by-sa-alan-burnett3

Johnny Haeusler kommentiert bei Spreeblick:

Für die Gefolgschaft des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi ist ein Krieg mit folgender Apokalypse das erklärte Ziel. Diese Leute wollen, dass wir einen Krieg gegen sie führen.Zu den Geschichten, auf denen das Daesh-Konstrukt basiert, gehört der Krieg gegen alle, die sich ihrem Kalifat nicht unterwerfen. Der Gegenentwurf dazu muss zeigen, dass Angriffe gegen Daesh allein gegen diese Organisation gerichtet sind und auch der Verteidigung der muslimischen Welt dienen. Ich halte das für essentiell. Und ich wünschte, es gäbe ein anderes Wort dafür als „Krieg“

Thomas Stadtler fragt bei internet-law nach den Gründen des Terrors in unseren Gesellschaften:

Vielleicht stellt tatsächlich die in Frankreich entstandene gesellschaftliche Polarisierung, die wir ansatzweise jetzt auch in Deutschland sehen, die größte Gefahr dar. Es könnte also sein, dass die Suche nach den Ursachen des Terrors tief in die eigene Gesellschaft hineinführen muss.

Der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar warnt vor dem Zerrbild der Sicherheit:

Dabei war eigentlich allen klar, dass eine offene Gesellschaft ihre „weichen Ziele“ nicht umfassend vor solchen Anschlägen schützen kann. Niemand darf sich der falschen Gewissheit hingeben, dass solche Aktionen zukünftig mit 100%iger Sicherheit ausgeschlossen werden können, durch welche Maßnahmen auch immer.

Die Digitale Gesellschaft fordert besonnene Antworten auf die Anschläge:

Es muß gelingen, zu einer evidenzbasierten, menschenrechtsorientierten Sicherheitspolitik zurückzukehren, die Effektivität, Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit und rechtsstaatliche Prinzipien ins Zentrum der Diskussion stellt. Um Terroranschläge wirksam zu verhindern und Täter gar nicht erst zu Tätern werden zu lassen, ist es außerdem dringend notwendig und geboten, den sozialen und politischen Ursachen des religiös-fundamentalistischen Extremismus auf den Grund gehen und ihnen gezielt entgegen wirken.

Ganz abgesehen von den Reaktionen, findet man gerade sehr viele Stimmen, die eine eingehendere Beschäftigung mit dem Phänomen IS und islamistischem Extremismus fordern. Sehr erhellende Artikel sind meines Erachtens folgende:

Ein wirklicher Longread von The Atlantic „What ISIS really wants“, danach hat man einiges verstanden, was das Netzwerk antreibt.

In der Stuttgarter Zeitung wird ausführlich der Siegeszug von Salafismus und Wahhabismus behandelt. Der Artikel gibt sich nicht zufrieden mit der Aussage, dass der Terror nicht zum Islam gehöre, sondern fordert eine breite innerislamische Debatte.

Wer weitere Artikel kennt, die hier reinpassen – einfach in den Kommentaren posten!

Die Fotos dieses Artikels von Alan Burnett entstanden 1973 in Paris. Sie stehen unter einer CC-BY-SA Lizenz

3 Kommentare

  1. Simone says:

    Sehr spannender Einblick einer ehemaligen ISIS-Geisel, die schreibt, dass der IS eine Willkommenskultur viel mehr fürchtet als Bomben: http://www.theguardian.com/commentisfree/2015/nov/16/isis-bombs-hostage-syria-islamic-state-paris-attacks?CMP=share_btn_tw

Hinterlasse einen Kommentar