Arschgeigen, Postprivacy und Meinungsfreiheit

Mal abgesehen von der umstrittenen Firma Euroweb, der Frage nach Arschgeigen und dem, was Euroweb geschäftlich so alles tut, entsteht durch den Fall rund um die Pfändung von Nerdcore.de gerade eine interessante Diskussion um Meinungsfreiheit.

mspro von der Postprivacy-Fraktion schreibt:

Gibt es ein Recht auf eine weiße Weste? Sollen wir Strukturen schaffen, die Westen rein halten sollen auch gegen den Willen desjenigen, der die Flecken öffentlich macht, oder der, der sie als Kopie auf der Festplatte lagert? Auch gegen das Interesse der Öffentlichkeit? Wie interpretieren wir “Informationelle Selbstbestimmung“? So wie das Hamburger Landgericht, als das Recht, zu entscheiden, was über mich gesagt werden soll? Sollen sich Euroweb, ehemealige Bildredakteuere und Gewinnspielmoderatoren immer und überall “informationell selbst bestimmen” dürfen? Ich finde: nein!

Und genau da vermischt mspro etwas fatal: der Bildzeitungsredakteur ist ein Mensch. Auch wenn er bei der Bildzeitung arbeitet und Schrott unter seinem echten Namen (ab)schreibt.

Euroweb ist ein Unternehmen. Für Unternehmen als juristische Person gilt die „informationelle Selbstbestimmung“ eben nicht. Und wenn ich mir ein Produkt von Firma XY kaufe und zuhause feststelle, dass dieses Produkt „Scheisse“ ist, dann will ich das auch verbreiten dürfen. Wo ich will, wie ich will, so lange ich will. Das ist Meinungsfreiheit. Und übrigens ein nützliches Korrektiv des ganzen Werbe-Bla-Bla, das Firmen mit großem finanziellen Aufwand in die Welt blasen.

Unternehmen haben keine Lust darauf, dass Negatives über ihre Produkte, die Produktionsbedingungen, ihr Geschäftsgebaren im Netz steht. Wenn Sie klug sind, machen sie intelligente Social Media Relations. Sie entkräften Argumente durch transparente Kommentare, suchen den Dialog oder setzen ihre SEO-Fuzzis ran, um missliebige Suchergebnisse zu verdrängen. Wenn sie blöd sind, setzen sie auf Abmahnung, Anwälte und Gerichte.

Wir sollen alles tun, damit sich Firmen nicht wegen jedem Kinkerlitzchen auf Urheberrecht, üble Nachrede, Verleumdung, etc. stützen können. Wenn wir in Sachen Meinungsfreiheit die juristische Position von Firmen stärken, werden sie immer mehr gegen alles Negative vorgehen um ihre heile Markenwelt aufrecht zu erhalten. Und dann kann ich nicht mehr schreiben, dass das neueste Headset von XY nach drei Wochen kaputtgegangen ist, weil es beknackt zusammengeschraubt wurde und dass die Firma von profitgierigen Arschgeigen geführt wird, denen der Kunde nichts bedeutet.

Anders sieht es bei natürlichen Personen aus. Und insbesondere bei Leuten, die nicht Personen des öffentlichen Lebens sind. Die haben eine Privatsphäre, deren Offenheit sie selbst bestimmen dürfen. Auch wenn es immer schwerer wird. Ganz normale Leute können durch Behauptungen oder irgendetwas, das im Netz über sie steht, tatsächlich stigmatisiert werden. Und so kommt dann jemand, der mal Scheisse gebaut hat, nicht mehr aus der Scheisse raus.
Und dann entscheidet tatsächlich der besser Vernetzte. Er hat nicht nur einen Vorteil, weil Scheisse über ihn weiter hinten bei Google steht, sondern auch weil er die Kraft hat, andere Leute „informationell fremdzubestimmen“.

Ennomane drückt es so aus:

Postprivacy nach Michael Seemann ist ein informationelles Hauen und Stechen, bei dem sich der Stärkere durchsetzt, und das ist in einer Postprivacy-Gesellschaft eben nicht derjenige mit dem vielen Geld und den besseren Anwälten sondern derjenige mit der größeren informationellen Reputation und Beliebtheit – oder der Datenhändler und Querymanipulateur mit der größeren kriminellen Energie.

Man muss nicht staatsgläubig sein, um genau das nicht zu wollen. Im Gegenteil. Eine Gesellschaft der absoluten Offenheit kann ich nur bei Waffengleichheit und ohne jegliche Hierarchie akzeptieren. Davon sind wir aber weit entfernt.

Bis dahin bleibt Privatpersonen nur Pseudonymität und Anonymität als bester Schutz vor datensammelnden Firmen, ebensolchen Staaten und Arschgeigen, die einen in die Öffentlichkeit zerren wollen.

8 Kommentare

  1. David. says:

    Sehr gelungene Analyse wie ich finde. Privatpersonen sollten tatsächlich Schutz genießen (Stichwort: Mobbing). Öffentliche Personen genießen diesen Schutz sowieso kaum (siehe Politik) und Firmen sollten sich nicht verstecken können.

  2. „Die deutsche Blog-Community heult, weil ihrem Mitstreiter Nerdcore der Hahn abgedreht wurde. Dabei ist das Übel ganz und gar hausgemacht – ein kleiner Exkurs in die BWL über Guerilla-Marketing, Streisand-Effekt und Corporate Behaviour.“

    http://www.philibuster.de/themen/neue-welten/domainpfaendung-nerdcore-und-die-blogolemminge.html

  3. Tim says:

    Eine Anmerkung; Der Übergang von nicht-öffentlicher Person zu öffentlichen Person und zurück. Während eines Strafverfahrens, das öffentliche Beachtung findet, kann der Beschuldigte namentlich genannt werden. Jedoch nach Abschluss des Prozesses, auch bei einer Verurteilung, wird er wieder zur nicht-öffentlichen Person. Demenstprechend gibt es sogar das Recht, das die Pseudonymsierung der damaligen Blogpostings erzwingt.

    Warum soll der Plagiat-Journalist schlechter darstehen als ein Angeklagter?

  4. Anne Roth says:

    Seit wann meint denn informationelle Selbstbestimmung „Was über mich gesagt wird“? Das Grundrecht mit demselben Namen, etabliert durch das Verfassungsgericht anlässlich der letzten Volkszählung, bezieht sich auf das Recht, selbst bestimmen zu können, was mit meinen Daten (= Informationen über mich) geschieht.

    Ich beschäftige mich ja nicht so viel mit dem Abmahn-Unwesen des berüchtigten Hamburger Gerichts, aber was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?

  5. Jens Best says:

    Ich finde, hier wird auch einiges zu schnell in eine Tonne geworfen.

    Meinungen anderer Personen über mich und Aspekte meiner Person, die mit der Teilnahme an der Gemeinschaft zu tun haben und somit zum öffentlichen Raum gehören, sollten auch im öffentlichen Web (suchmaschinenlesbar, ohne Login zugänglich) verfügbar sein können.

    Das ganze wird begrenzt durch ein nur teilweise juristisch einklagbare, auf jeden Fall aber soziokulturell definierbare gegenseitige Wertschätzung und Rücksichtnahme.

    Möglichkeit der Erinnerungsfähigkeit der Gemeinschaft steht vorrangig zur Möglichkeit des Einzelnen Vergangenes aus dem öffentlichen Gedächtnis zu löschen. Selbst-Lobotomie durch chirurgische Eingriffe oder Alkohol/Drogenmissbrauch sind dem Einzelnen selbstverständlich freigestellt. (-> s. Greg Egan)

    Die größte Herausforderung ist die selbstverantwortliche Fähigkeit des Informations-Empfängers zur Kontextualisierung des Aufgenommenen bzw. die Verpflichtung im Zweifelsfalle ohne genügend ausgeglichene Informationslage keine radikalen Entscheidungen gegenüber dem Sender oder dem beschriebenen Objekt endgültig zu treffen. Gelassenheit und ein gerütteltes Maß an Menschlichkeit und Höflichkeit sind hier die Stichworte.

    In einer Welt der sich ständig überschlagenden tausendfachen Interessenslagen (mit stark variierenden und tagesaktuell schwankenden emotionalen Intelligenzquotienten der Subjekte) ist das alles eine große Herausforderung für Menschen, die durch die Jahrzehnte des Neoliberalismus an einen übersteigerten (Pseudo)Individualismus und Anspruchsdenken gewöhnt sind.

    Das auch der einzelne Bildzeitungs-„Journalist“ als Mensch im herrschenden System Fehler macht und somit partiell Opfer wird, entschuldigt nicht unbedingt das individuelle Verhalten, macht aber klar, dass statt gegenseitiger Zerfleischung ein Nachdenken über systemische Förderung von Ungerechtigkeit im Vordergrund stehen sollte. (s.a. Kommentar bei Niggemeier -> http://ow.ly/3G7S0 )

    Das Web verstärkt die Effekte, die in einer Gesellschaft/Gemeinschaft
    den Umgang bestimmen. Dem Web durch technische Vorgaben oder gar Gesetze das Vergessen vorschreiben zu wollen, grenzt an Selbstverachtung. Das Web ist ein Spiegel der Gesellschaft, jede ernstzunehmende Änderung, die im Web gefordert wird, sollte also eher gesellschaftlich/gemeinschaftlich in der Restrealität angegangen werden. Wer das Spiegelbild des Gegenüber wütend anschreit oder das durch Fremde verzerrte eigene Spiegelbild beweint, ist nichts weiter als ein Affe, der nicht verstanden hat, das Realität nicht im Spiegel entsteht.

    PS: Dies ist eine Anregung mal entspannt langfristig nachzudenken, keine adhoc-Lösung.
    Aktuell muss ich z.B. auch damit leben, dass eine hass-erfüllte und unreflektierte Meinung eines Bloggers (Sieckendieck) unter den 10 ersten Suchergebnissen(google) bei meinem Namen steht. Dieser Mann hat nie mit mir gesprochen und hat wenig dialektische Kompetenz hinsichtlich des Themas, in dem er versucht mich niederzuschreiben.

    Aber ihn deswegen jetzt wegen Verleumdung anzuzeigen wäre genau das, was das aktuelle System von mir erwartet (ein Hauen und Stechen) – ich habe einfach Mitleid und vertraue auf bei den durch diesen Artikel „beeinflussten“ Personen auf das Korrektiv der Verzögerung.

  6. Wer wird dazu gezwungen, Scheiße zu bauen die im Internet noch Jahrzehnte später nachzulesen ist?

    Richtig. Niemand.
    So kann die sog. PostPrivacy-Ära nur dazu führen, daß wir Menschen uns als Menschen verhalten – gleichwertig und fair anderen gegenüber – denn es wird immer eine Möglichkeit geben, die Fehler zu finden und nachzulesen.

    Ich finde: Prima.

  7. John F. Nebel says:

    @Anne: Ich denke schon, dass es etwas miteinander zu tun hat. Ich stelle irgendwas von mir ins Netz, jemand anders taggt es mit meinem Namen, usw. Ich für mich ziehe daraus die Lehre, dass ich keine Bilder von mir ins Netz stelle, damit nicht irgendein Depp meinen Namen dazuschreiben kann. Das wäre zum beispiel ein solcher Zusammenhang. Die informationelle Selbstbestimmung setzt also eine Art Eigenprävention voraus. Aber ich bin kein Jurist und vielleicht kommt da auch mal was durcheinander.

    @Jens: Deine Einschätzung im ersten Absatz teile ich nicht. Was ist „Teilnahme an der Gemeinschaft“? Das ist mir zu diffus.
    Richtig ist das mit der Kontextualisierung: das Bild besoffen mit 14 und betrunken dekoriert, sollte den Personaler nicht interessieren, wenn ich mich mit 28 irgendwo bewerbe. Aber auch davon sind wir weit entfernt und diese Kontextualisierung ist tatsächlich eine großer Herausforderung, die die meisten nicht hinbekommen werden.

    @Björn: Das geht mir zu sehr in die Richtung „Wer sich nichts zu schulden kommen lässt, der hat auch nichts zu befürchten“. Und manchmal können Menschen gar nicht abschätzen, was sie machen. Aber klar: wir müssen in einer Gesellschaft, in der sich die Privatsphäre auflöst, einfach schauen, was wir machen und wie wir agieren. Das wird eine Kompetenz sein, die Menschen erst erlernen müssen.

  8. Jens Best says:

    @John @et.al.

    Sozialpsychologie und Kognitionsforschung hat schon in analogen Zeiten über die Wahrnehmung des Individuums, interpersonale Beziehungen und Stereotypisierungen nachgedacht und praktisch geforscht.

    Dein fatalistisches „Herausforderung, die die meisten nicht hinbekommen werden“ ist völlig realitätsfremd, weil genau diese Herausforderung seit Menschengedenken einer der Antriebe zivilisatorischen Handelns ist. Eine Negation der menschlichen Befähigung genau dazu ist also freundlich formuliert ein Preisgabe des Anspruches Mensch unter Menschen zu sein (außer du strebst die Einsiedelei an).

    „Teilnahme an der Gemeinschaft“ ist natürlich diffus, da für den Kommentar stark verkürzt. Die digitalen Sphären der Gemeinschaft, in die das Individuum aus seinem Privatbereich kommend hineintritt, sind unterschiedlich ausgestaltet. Danah Boyd hat auf der SXSW2010 ja ein paar schöne Gedanken über die unterschiedlichen Ebenen der publicness und den umgang mit den dort entstehenden Daten zu Papier gebracht (siehe ihr blog).

    Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, wie digitale Räume mit unterschiedlicher sozialer Performanz im gemeinschaftlichen Aufgabenfeld „Vergessen und Vergeben“ zu handhaben sind.

    Eine technische Lösung ist, ähnlich den Internetsperren, völlig unzuträglich, da die entscheidende Weiterentwicklung auf der sozialen Ebene stattfindet. Somit sind in halböffentlichen digitalen Räumen die Absprachen der jeweiligen Community entscheidend; in digitalen Räumen, die der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit zugeordnet werden, braucht es soziokulturelle Regelungen und juristisch bestimmte Grenzdefinitionen, um die in einer offenen Gesellschaft üblichen Streitigkeiten möglichst gerecht und gemeinschaftlich akzeptiert zu regeln.

    Keinesfalls dürfen die grundlegenden digitalen Räume der Gesellschaft von kommerziellen Interessen beherrscht und primär bestimmt werden. dies wäre/ist nichts weiter als die Fortsetzung des neoliberalen Turbokapitalismus, dessen ressourcen-vernichtenden Todeskampf wir gerade erleben.

    Und genau hier sind die „digital erfahrenen“ Kreise nun ernsthaft gefordert. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits muss sich in den Köpfen und Herzen von Nerdistan die gedankliche Spreu vom Weizen trennen. Der offene Umgang in der digitalen Sphäre, der sowohl Ethos als auch Kern des gemeinsamen Handelns und damit Grundlage der vielen sozial-innovativen Tools ist und bleiben soll, darf nicht verraten werden im Anpassungsprozeß an die RL-Gesellschaft. Die Digitale Arroganz gegenüber den Unwissenden ist dagegen abzulegen. Leben ist eben nicht reiner Code (wenn auch mehr als manche denken ;)

    Anderseits muss sich die bunte digitale Bewegung ihrer oft zur Schau gestellten Geschichtsvergessenheit bewusst werden und fragen, welche gesamtgesellschaftlichen Missstände, systemisch sowie operativ, sie gerne verändern wollen würde oder wo die digitale Werkzeuge mehr Menschen helfen, eine gerechte Lebenswelt zu gestalten.
    Nicht mehr aber auch nicht weniger ist nötig, um diese ewigen zusammenhanglosen Shitstorms und Stürme im Wasserglas einzuordnen und zu beenden.

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